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27 August 2024

Ein Gespräch mit Prigoschins Seele

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Jewgenij Prigoschin

Vor etwa einem Jahr verstarb eine der schillerndsten und umstrittensten Persönlichkeiten der modernen russischen Geschichte, der Chef des privaten Militärunternehmens Wagner, Jewgenij Prigoschin.

Der Absturz seines Flugzeugs ist immer noch ein Thema für Verschwörungstheorien. Enthusiasten wenden unter anderem die Methode der so genannten regressiven Hypnose an, um mit der Seele von Prigoschin zu kommunizieren. Natürlich gilt diese Methode als antiwissenschaftlich, sogar als Schwindel. Andererseits sind in den letzten Jahren viele Ereignisse, die als Verschwörungsgeschichten galten, Wirklichkeit geworden, und die Realität gleicht immer mehr einem Albtraum. Aber selbst wenn man diese Reportage als reine Fantasie ansieht, scheint sie viel zum Nachdenken anzuregen.

Wie auch immer, nachstehend finden Sie den "Mitschnitt eines Gesprächs" zwischen einem Mediator und einem jenseitigen Wesen, das sich Prigoschin nennt.

Mediator: Ich bin irgendwo hingefallen. Ich weiß nicht, wo ich bin. Es ist irgendwo zwischen der ersten und der zweiten Ebene. Oder besser gesagt, es sind die Ebenen Eins-Minus oder Zwei-Minus. Es kommen nun Informationen herein, dass es die Ebene Eins-Minus ist. Ich kann noch niemanden sehen. Es ist kalt und dunkel. Ja, jetzt ich sehe das Bild von Prigoschin, er hat eine Glatze. Ich kann ihn nur von oben sehen, bis zur Taille, ich sehe seinen Kopf, seine Schultern, seine Brust, wie eine Büste. Werden Sie mit uns sprechen?

Prigoschin: Ja, ich kann reden.

Mediator: Ich kann seine Augen sehen, er schaut mich an. Sind Sie wirklich die Seele von Jewgenij Prigoschin?

Prigoschin: Ja, das bin ich.

Mediator: Er hat sich gewissermaßen gespalten und ist dann wieder zusammengekommen. Ich meine, sein Bild spaltete sich, und jetzt ist er wieder zusammen. Sagen Sie mir, wo sind Sie jetzt? Beschreiben Sie diesen Ort.

Prigoschin: Es ist ein Ort der Säuberung. Ich werde gesäubert, es tut weh.

Mediator: Und wie werden Sie gesäubert? Sagen Sie es mir, bitte.

Prigoschin: Sie reißen mich in Stücke, brennen mich und nehmen mich auseinander. Ich komme mir vor wie ein Baukasten. Es ist sehr beängstigend hier.

Mediator: Ist Ihnen klar, wo Sie sind?

Prigoschin: Es ist unmöglich, das nicht zu begreifen. Ich weiß sehr wohl, wo ich bin. Und ich weiß nicht, wie lange ich hier sein werde. Mir wurde erlaubt, zu kommunizieren. Eigentlich ist es nicht jedem erlaubt, hier zu kommunizieren.

Mediator: Und wenn Sie mit uns kommunizieren, werden Sie in diesem Moment nicht gequält?

Prigoschin: Sie quälen mich weiterhin. Ein Teil meines Bewusstseins wird gequält, und ein Teil meines Bewusstseins ist bei Ihnen. Dabei wird ein Teil meines Bewusstseins zerrissen. Das ist der Prozess einer ständigen Quälerei, er hört nicht auf.

Mediator: Sagen Sie mir, damit die Menschen es verstehen, sind Sie auf der Erde am Leben oder sind Sie gestorben?

Prigoschin: Ich hatte einen Übergang.

Mediator: Sie sind also nicht auf der Erde?

Prigoschin: Nein, nein. Das ist sehr traurig. Ich werde so sehr gesäubert, weil ich mir wünsche, auf der Erde zu sein, deshalb bin ich wütend. Ich schätze, dass ich deswegen noch mehr gequält werde. Es ist wie ein Teufelskreis. Ich weiß nicht, wie ich aus ihm herauskommen soll.

Mediator: Aber Sie könnten die Situation akzeptieren und aufhören, wütend und reumütig zu sein, oder?

Prigoschin: Das kann ich noch nicht. Ich kann diese Worte sagen, aber ich kann es nicht wirklich tun. Es ist mehr als nur Worte. Es ist wie ein Stein, es ist wie eine riesige Energie des Zorns und man kann sie nicht einfach mit Worten loswerden.

Mediator: Haben Sie diese Energie der Wut während des Übergangs erworben?

Prigoschin: Sie wurde zu meiner Essenz.

Mediator: Sagen Sie mir, waren Sie in dem Flugzeug, das am 23. August abgestürzt ist?

Prigoschin: Ja, ich war in diesem Flugzeug.

Mediator: Warum sind sie alle in ein Flugzeug gestiegen, das gesamte Management des Unternehmens? Warum sind Sie in dasselbe Flugzeug gestiegen?

Prigoschin: Wir dachten, dass wir zusammenbleiben sollten. Das schien uns sicherer zu sein. Das war unsere Strategie, zusammenzuhalten.

Mediator: Sind Sie vorher in verschiedenen Flugzeugen geflogen?

Prigoschin: Wir waren immer auf unterschiedliche Weise unterwegs. Wir dachten, so würden wir unsere Spuren verwischen. Und dieses Mal dachten wir, dass zu viel von uns abhängt und man uns deshalb nicht alle zusammen eliminieren würde. Aber man hat uns trotdem alle auf einmal ausgeschaltet.

Mediator: Hatten Sie das Gefühl, dass es besser gewesen wäre, getrennt zu fliegen? Hatten Sie ein solches Gefühl?

Prigoschin: Es gab alle möglichen Vorahnungen. Dies war eine davon. Ich war in letzter Zeit verwirrt über meine Vorahnungen, um ehrlich zu sein. Es gab viele davon. Und es gab Fantasien und Visionen, im Grunde genommen war es unmöglich, eine echte Vorahnung zu wählen. Wir sind zusammen in das Flugzeug gestiegen, so war es irgendwie ruhiger auf der Seele. Und wenn wir zusammen waren, hatten wir immer ein Gesprächsthema, und irgendwie war es ruhiger, dass wir alle zusammen sind. Das Zusammensein war stärker als das Gefühl von Tod und Gefahr. Wir sahen uns als eine geballte Kraft. Außerdem war es beängstigend, allein zu sein. Viele von uns hatten Angst vor dem Alleinsein.

Mediator: Gibt es irgendetwas, das Sie dort jetzt tun?

Prigoschin: Ich kann nichts tun, ich entscheide mich für nichts. Es gibt ständig eine Art Säuberung, ständig Energieklumpen, ständig Qualen. Es ist, als käme ich von einem Nebel in einen anderen Nebel, und der eine Nebel ist beängstigender als der andere Nebel. Es gibt eine ständige Einwirkung. Es gibt hier gewisse Wesen: sie sind groß und klein. Sie beißen, sie sind unterschiedlich, sie sind stark, sie sind schwach. Sie quälen die Seele.

Mediator: Es gibt viele Menschen auf der Erde, die Gerüchte verbreiten, dass Sie noch leben. Was glauben Sie, warum tun sie das?

Prigoschin: Mein Name ist mit verschiedenen Handlungen verbunden, mit Geld, mit Ängsten, mit Ereignissen. Übrigens, gerade weil meine Handlungen mit Ängsten verbunden waren, fühle ich mich hier noch schlechter. Es ist wie eine Spur, die hinter mir liegt. Es ist eine sehr schwere Spur, und durch diese Spur fühle ich mich hier noch schlechter.

Mediator: Konnten Sie damals verschwinden, einfach den Tod vortäuschen?

Prigoschin: Das ist genau das, was ich vorhatte, nämlich zu verschwinden, damit alle denken, dass ich getötet wurde wurde oder dass ich gestorben bin. Und das war nicht nur ich. Wir hatten mehrere Leute, die das tun und verschwinden wollten. Wir hatten sogar schon einen sicheren Ort, und es gab einen Plan.

Mediator: Sollte es ein Flugzeugabsturz sein?

Prigoschin: Nein, unser Plan sah vor, dass es im Verlauf der Feindseligkeiten geschehen sollte. Wir hätten während der Feindseligkeiten „getötet“ werden sollen, und in Wirklichkeit hätten wir untertauchen können. Wir wollten es so aussehen lassen, dass unser Hauptquartier an der Front angeblich bombardiert wurde. Wir hatten genügend Leichen, um unseren Tod im Hauptquartier und während der Feindseligkeiten zu inszenieren. Aber das war unsere Reserveoption, wir dachten, dass es noch nicht an der Zeit war, das zu tun. Wir dachten, dass die Situation noch nicht so kritisch war, um das zu tun.

Mediator: Ist es jetzt schwer für Sie dort?

Prigoschin: Sehr schwer.

Mediator: Sagen Sie mir, haben Sie Ihr Leben auf der Erde richtig gelebt? Was denken Sie darüber?

Prigoschin: Nein, ich habe es nicht richtig gelebt.

Mediator: Was war falsch?

Prigoschin: Die Wahl des Lebensweges war grundsätzlich falsch. Es war einfach so, dass ich immer mit dunklen Menschen zusammen war. Jetzt fühle ich, dass die Wahl falsch war, ich fühle es jeden Moment. Und ich zahle dafür.

Mediator: Es kommt mir so vor, als stünden wir mit Prigoschin im Moment auf entgegengesetzten Seiten eines Schalters. Er ist auf der einen Seite, ich bin auf der anderen. Und es ist, als ob er sich an diesem Schalter festhält, und es ist, als ob er irgendwo heruntergezogen wird, aber er widersetzt sich. Er will unbedingt reden.

Mediator: Ist Ihnen erst jetzt klar geworden, dass Sie den falschen Weg gewählt haben?

Prigoschin: Nein, ich wusste, dass ich falsch gehandelt habe. Ich habe es immer gewusst, aber ich habe diese Gedanken immer verdrängt. Und dummerweise habe ich aus irgendeinem Grund immer gedacht, dass man sich überall irgendwie freikaufen kann.

Mediator: Dachten Sie also wirklich, dass Sie sich auch im Jenseits freikaufen könnten? In der Welt der Seelen?

Prigoschin: Ich dachte, dass einige meiner Taten ehrenhaft waren. In Wirklichkeit waren sie es nicht. Hier haben sich die Taten, die ich auf der Erde für edel hielt, ins Gegenteil verkehrt. Am Anfang war ich nicht auf dieser Minus-Ebene, sondern auf einer Nullebene, in einer Art Leere. Auch dort war es beängstigend, weil ich nicht wusste, wohin ich gehe. Und dort, wo ich mich befand, in der Leere, gab es eine beängstigende Wirkung. Diese Leere war überwältigend.

Mediator: Gibt es etwas, das Sie vielleicht denjenigen vermitteln möchten, die auf der Erde zurückgeblieben sind?

Prigoschin: Ich möchte die Menschen bitten, für mich zu beten. Vielleicht hilft mir das hier.
Sie sollen für mich beten, nicht für einen Mörder, sondern für eine menschliche Seele. Wenn sich jemand an mich als einen guten Menschen erinnert, dann soll er für mich, fuer meine Seele beten. Es gibt solche Menschen, es sind vor allem Menschen aus meiner Kindheit. Wenn sie noch am Leben sind. Und nach meiner Kindheit gab es nur noch sehr zwielichtige Persönlichkeiten.

Mediator: Und wenn die Menschen für Sie beten, für Ihre Seele, wird Ihnen das helfen?

Prigoschin: Ich hoffe es. Der Schmerz ist so groß, dass es unmöglich ist, ihn zu ertragen. Es gibt kein Entrinnen, und dieser Schmerz dauert an, und es ist unmöglich, ihm zu entkommen. Vielleicht tut es nicht so weh, wenn sie beten. Es scheint so, als ob der Schmerz eine Art Grenze haben muss und er aufhören wird und man sich auflöst und aufhört zu existieren, aber das kommt nicht. Die Quälerei geht weiter. Ich habe ein Kind, ein drittes Kind, von dem die Leute nichts wissen. Es ist ein Mädchen. Sie ist fünf Jahre alt. Wenn die Seele dieses fünfjährigen Mädchens leidet, wenn sie sich schlecht fühlt, wird es für mich noch schlimmer sein.

Mediator: Wird es möglich sein, in Zukunft mit Ihnen zu kommunizieren?

Prigoschin: Ich weiß es nicht, im Moment ist das mir erlaubt. Ich weiß nicht, was passieren wird. Vielleicht wurde mir erlaubt, mit Ihnen zu kommunizieren, um zu einer Erkenntnis zu kommen, oder um mich selbst zu säubern. Im Moment herrschen Angst und wilder Schmerz.

Vermittler: Er ist plötzlich verschwunden, als ob ein Stuhl unter ihm weggeschlagen worden wäre...

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27 Dezember 2023

Putins Berater über gescheitertes Europa und wiedergeborenes Russland

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Sergej Karaganow

Die "Rossijskaja Gaseta" hat ein Interview mit Sergej Alexandrowitsch Karaganow veröffentlicht.

Dieser Mann wird als ein dem russischen Präsidenten nahestehender Politikwissenschaftler beschrieben. Tatsächlich ist Karaganow Mitglied des wissenschaftlichen Rates des russischen Sicherheitsrates, der vor dem Hintergrund der Militäroperation de facto zur wichtigsten Machtinstanz in Russland geworden ist. Seine Argumentation könnte daher aus dem Blickwinkel der geopolitischen Ansichten des Kremls durchaus interessant sein.

***

Sergej Alexandrowitsch, bedarf es angesichts der gegenwärtigen schwierigen außenpolitischen Lage einer konzeptionell anderen Theorie der Abschreckung gegenüber den Feinden Russlands, um die wachsende Konfrontation frühzeitig zu stoppen und unseren Gegnern die Lust am Konflikt zu nehmen?

Sergej Karaganow: Die europäischen und vor allem die deutschen Eliten befinden sich in einem Zustand des historischen Versagens. Die Grundlage ihrer 500-jährigen Vorherrschaft - die militärische Überlegenheit, auf der die wirtschaftliche, politische und kulturelle Dominanz des Westens aufgebaut war - ist ihnen entzogen worden. Mit Hilfe dieser Überlegenheit pumpten sie das Weltinlandsprodukt zu ihren Gunsten auf. Zuerst plünderten sie die Kolonien aus, später taten sie dasselbe, aber mit raffinierteren Methoden.

Die gegenwärtigen westlichen Eliten werden mit der Fülle von Problemen, die in ihren Gesellschaften wachsen, nicht fertig. Dazu gehören eine schrumpfende Mittelschicht und zunehmende Ungleichheit. Fast alle ihre Initiativen sind gescheitert. Die Europäische Union bewegt sich, wie jeder weiß, langsam aber sicher auf die Zersetzung zu. Aus diesem Grund zeigen die europäischen Eliten seit etwa 15 Jahren eine feindselige Haltung gegenüber Russland. Sie brauchen einen äußeren Feind. In der Vergangenheit sagte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass die von der EU beschlossenen Sanktionen in erster Linie notwendig seien, um die Europäische Union zu vereinen und sie vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

Die deutschen und europäischen Eliten haben einen Minderwertigkeitskomplex in einer monströsen Situation, in der Europa von allen überholt wird. Nicht nur von den Chinesen und US-Amerikanern, sondern auch von vielen anderen Ländern. Dank der Befreiung der Welt vom "westlichen Joch" durch Russland sind die Staaten des globalen Südens, oder wie ich sie nenne, die Länder der Weltmehrheit, Europa nicht mehr unterworfen.

Die Gefahr, die von Europa ausgeht, besteht darin, dass die Alte Welt ihre Angst vor bewaffneten Konflikten verloren hat. Und das ist sehr gefährlich. Gleichzeitig hat Europa, ich erinnere Sie daran, die schlimmsten Katastrophen in der Geschichte der Menschheit verursacht. Jetzt wird in der Ukraine nicht nur um die Interessen Russlands, um seine Sicherheit gekämpft, sondern auch um die Verhinderung einer neuen weltweiten Konfrontation. Diese Bedrohung nimmt zu. Das liegt auch an den verzweifelten Gegenangriffen, die der Westen unternimmt, um seine Vorherrschaft zu bewahren. Und die derzeitigen europäischen Eliten scheitern und verlieren in der Welt viel mehr an Einfluss als die US-amerikanischen Eliten.

Russland kämpft seinen eigenen Kampf, und zwar erfolgreich. Wir handeln selbstbewusst genug, um diese westlichen Eliten zu ernüchtern, damit sie nicht aus Verzweiflung über ihr Versagen einen weiteren Weltkonflikt entfesseln. Wir dürfen nicht vergessen, dass dieselben europäischen Eliten im letzten Jahrhundert innerhalb einer Generation zwei Weltkriege entfesselt haben. Und jetzt ist die Qualität dieser Eliten im Vergleich zum letzten Jahrhundert noch niedriger geworden.

Sprechen Sie von der geistigen und politischen Niederlage Europas als einer vollendeten Tatsache?

Sergej Karaganow: Ja, und es ist erschreckend. Immerhin sind wir Teil der europäischen Kultur. Aber ich hoffe, dass sich durch eine Reihe von Krisen gesunde Kräfte in Europa durchsetzen werden, in etwa 20 Jahren, sagen wir mal. Und es wird aus seinem Versagen aufwachen, auch aus seinem moralischen Versagen.

Im Moment erleben wir, wie sich ein neuer eiserner Vorhang gegen Russland bildet. Der Westen versucht, Russland "abzuschaffen", auch auf dem Gebiet der Kultur und unserer Werte. In den Medien findet eine gezielte Entmenschlichung der Russen statt.

Sollten wir spiegelbildlich reagieren und den Westen "abschaffen"?

Sergej Karaganow: Ganz und gar nicht. Der Westen lässt jetzt den Eisernen Vorhang fallen, erstens, weil wir in Russland richtige Europäer sind. Wir sind gesund. Und sie wollen die gesunden Kräfte ausschließen. Zweitens lässt der Westen diesen Vorhang herunter, sogar noch dichter als während des Kalten Krieges, um seine Bevölkerung für die Feindschaft zu mobilisieren. Aber wir brauchen keine militärische Konfrontation mit dem Westen, also werden wir auf eine Politik der Eindämmung setzen, um das Schlimmste zu verhindern.

Auf jeden Fall werden wir natürlich nichts absagen, auch nicht unsere europäische Geschichte. Ja, wir haben unsere europäische Reise beendet. Ich glaube, dass sie sich ein bisschen hingezogen hat, vielleicht ein Jahrhundert lang. Aber ohne die europäische Impfung, die europäische Kultur, wären wir nicht zu einer solchen Großmacht geworden. Wir hätten nicht Dostojewski, Tolstoi, Puschkin, Blok. Deshalb werden wir die europäische Kultur bewahren, die Europa, wie es scheint, aufgeben will. Ich hoffe jedoch, dass es sich nicht völlig aufgeben wird. Schließlich vernichtet Europa nicht nur die russische Kultur, sondern auch seine eigene Kultur. Es löscht eine Kultur aus, die weitgehend auf Liebe und christlichen Werten beruht. Es löscht seine Geschichte aus und zerstört seine Denkmäler. Wir werden jedoch nicht unsere europäischen Wurzeln verleugnen und uns mit der europäischen Schweinerei vergleichen.

Aber ich habe mich immer dagegen gewehrt, den Westen einfach nur mit Abscheu zu betrachten. Das sollte man nicht tun. Dann würden wir wie sie werden. Und sie gleiten jetzt in die unvermeidliche Faschisierung. Wir brauchen nicht all die Seuchen, die von Europa ausgingen und noch immer ausgehen. Dazu gehört auch die wieder wachsende Verseuchung mit dem Faschismus.

Im Jahr 2023 werden alte Konflikte wieder aufgetaut und demonstrativ die Voraussetzungen für neue geschaffen: Dazu gehören die vorhersehbar explodierende palästinensisch-israelische Konfrontation, eine Reihe von Kriegen in Afrika und eher lokal begrenzte Zusammenstöße in Afghanistan, Irak und Syrien. Wird sich dieser Trend fortsetzen?

Sergej Karaganow: Dieser Trend wird im nächsten Jahr noch nicht lawinenartig anschwellen. Aber es ist ganz offensichtlich, dass er sich verstärken wird, weil sich die tektonischen Platten unter dem Weltsystem verschoben haben. Russland ist heute viel besser auf diese Zeit vorbereitet als noch vor einigen Jahren. Die Militäroperation, die wir in der Ukraine durchführen, zielt unter anderem darauf ab, das Land auf das Leben in einer zukünftigen, sehr gefährlichen Welt vorzubereiten. Wir säubern unsere Elite, indem wir korrupte, pro-westliche Elemente aus dem Land werfen. Wir beleben unsere Wirtschaft wieder. Wir beleben unsere Streitkräfte wieder. Wir beleben den Geist Russlands wieder. Wir sind jetzt viel besser darauf vorbereitet, unsere Interessen in der Welt zu verteidigen, als wir es noch vor einigen Jahren waren. Wir leben in einem wiedererstarkten Land, das mutig in die Zukunft blickt. Die spezielle Militäroperation hilft uns bei der Selbstreinigung vom Westen und vom Westentum, hilft uns, unseren neuen Platz in der Geschichte zu finden. Und schließlich, um uns militärisch zu stärken.

Stimmen Sie zu, dass die Welt ab 2024 in eine Periode anhaltender Konflikte eintritt? Hat die Menschheit heute den politischen Willen, diese Situation zu ändern?

Sergej Karaganow: Natürlich sind wir in eine Ära langwieriger Konflikte eingetreten. Aber wir sind viel besser auf sie vorbereitet als je zuvor. Ich habe den Eindruck, dass wir durch unseren Kurs zur Eindämmung des Westens und den Aufbau von Beziehungen zum brüderlichen China jetzt zu einer Achse der Welt werden, die alle vor dem Abgleiten in eine globale Katastrophe bewahren kann. Dies erfordert jedoch Anstrengungen, um unsere Gegner im Westen zu ernüchtern. Wir sind in einen Kampf eingetreten, der die Welt retten muss. Und vielleicht ist es die Aufgabe Russlands, die Welt vom "westlichen Joch" zu befreien, sie vor den Schwierigkeiten zu bewahren, die sich aus den Veränderungen in der Welt ergeben, die schon jetzt für viel Unruhe sorgen. Die Bedrohung geht zu einem nicht geringen Teil von einem verzweifelten Gegenangriff des Westens aus, der sich daran klammert, seine 500-jährige Vorherrschaft aufrechtzuerhalten, die es ihm ermöglicht hat, die Welt auszuplündern.

Wir sehen, dass sich im Westen neue Werte herausgebildet haben, darunter die Leugnung alles Menschlichen und Göttlichen im Menschen. Die westlichen Eliten haben begonnen, diese Anti-Werte zu düngen und zu kultivieren und die normalen Werte zu unterdrücken. Wir haben also eine schwierige Zeit vor uns, aber ich hoffe, dass wir uns selbst bewahren und der Welt helfen werden, das Menschliche im Menschen zu retten.

Eines der vielen Probleme, mit denen die Welt derzeit konfrontiert ist, besteht natürlich darin, dass sich die Weltwirtschaft aufgrund des unaufhörlichen Anstiegs des Konsums in einer systemischen Krise befindet. Dieser Konsum zerstört die Natur selbst. Der Mensch wurde ja nicht nur zum Konsumieren geschaffen, um den Sinn der Existenz im Kauf neuer Dinge zu sehen.

Der stellvertretende Außenminister Sergej Rjabkow brachte die mögliche künftige Abkehr vom antirussischen Kurs der Vereinigten Staaten und ihrer Untergebenen mit einem "Generationswechsel" im Westen in Verbindung. Doch kann ein Elitenwechsel im Westen, wenn er denn eintritt, einen Anstoß zum Abbau der Spannungen geben? Die 1980 geborene deutsche Außenministerin Annalena Berbock gehört zum Beispiel zu einer neuen Generation, aber ihre Ansichten sind radikaler als einiger anderer "Falken" der Vergangenheit. Gibt es aus Ihrer Sicht noch vernünftige und verhandlungsbereite Politiker im Westen?

Sergej Karaganow: Ich glaube, dass wir es heute im Westen mit zwei Generationen von Eliten zu tun haben, die sich bereits tief degradiert haben. Und leider ist es unwahrscheinlich, dass wir in der Lage sein werden, eine Einigung mit ihnen zu erzielen. Ich glaube aber nach wie vor, dass die Gesellschaften und Völker, auch in Europa, zu normalen Werten zurückkehren werden. Aber das erfordert natürlich einen Generationenwechsel bei den Eliten. Ich stimme Sergej Rjabkow zu, dass dies ein langer Zeitraum sein wird. Aber ich hoffe, dass Europa, und vielleicht auch die Vereinigten Staaten, nicht in einen hoffnungslosen Zustand verfallen werden. Und die gesunden nationalen Kräfte werden in Europa an die Macht zurückkehren.

Aber ich glaube nicht, dass wirklich pragmatische, ich wiederhole, nationale Kräfte in Europa in naher Zukunft an die Macht kommen können. Daher glaube ich, dass es mindestens anderthalb Generationen dauern wird, bis wir jemals über normale Beziehungen zwischen Russland und dem Westen sprechen können. Wir sprechen also von etwa 20 Jahren.

Wir müssen auch erkennen, dass wir den Westen nicht mehr brauchen. Wir haben von dieser wunderbaren europäischen Reise, die Peter der Große begonnen hat, alles mitgenommen, was wir konnten. Und jetzt müssen wir zu uns selbst zurückkehren, zu den Ursprüngen von Russlands Größe. Das ist natürlich die Entwicklung Sibiriens. Seine neue Entwicklung, die das Erreichen neuer Horizonte bedeutet. Wir müssen uns daran erinnern, dass wir nicht so sehr ein europäisches Land sind, sondern ein euro-asiatisches. Ich werde nicht müde, daran zu erinnern, dass Alexander Newski auf seinem Weg nach Karakorum, der Hauptstadt des Mongolenreichs, eineinhalb Jahre lang zunächst durch Zentralasien und dann durch Südsibirien reiste. In der Tat war er der erste russische Sibirier.

Durch die Rückkehr nach Sibirien, in den Ural, den Bau neuer Straßen und neuer Industrie kehren wir zu uns selbst zurück, zu den Wurzeln unserer 500-jährigen Größe. Erst mit der Erschließung Sibiriens hat Russland die Kraft und die Möglichkeit gefunden, eine Großmacht zu werden.

Wie sinnvoll ist es, Europa für Jahrzehnte zu vergessen?

Sergej Karaganow: Wir sollten auf keinen Fall die alten heiligen Steine Europas vergessen, von denen Dostojewski sprach. Sie sind Teil unserer Identität. Ich selbst liebe Europa, insbesondere Venedig. Durch diese Stadt führte die Seidenstraße, und durch sie die großen asiatischen Zivilisationen. Sie übertrafen übrigens die europäische Zivilisation in ihrer Entwicklung zu jener Zeit. Noch vor 150-200 Jahren war die Orientierung nach Europa ein Zeichen von Modernisierung und Fortschritt. Doch seit langem und erst recht heute ist eine solche Orientierung ein Zeichen für intellektuelle und moralische Rückständigkeit. Wir sollten unsere europäischen Wurzeln nicht verleugnen, sondern mit ihnen sorgsam umgehen. Schließlich hat uns Europa viel gegeben. Aber Russland muss sich vorwärts bewegen. Und vorwärts heißt nicht in den Westen, sondern in den Osten und Süden. Dort liegt die Zukunft der Menschheit.

Der Vertrag über strategische Offensivwaffen läuft im Jahr 2026 aus. Wie geht es weiter? Können wir unter den Bedingungen des rechtlichen Nihilismus des Westens mit neuen zwischenstaatlichen Vereinbarungen im militärischen Bereich rechnen? Oder ist die Menschheit zu einem unkontrollierbaren Wettrüsten verdammt, bis eine neue Weltordnung und damit ein neuer "Status quo" geschaffen ist?

Sergej Karaganow: Es ist sinnlos, mit den derzeitigen westlichen Eliten zu verhandeln. In meinen Veröffentlichungen fordere ich die westliche Oligarchie auf, diese Eliten zu verändern, weil sie für sich selbst gefährlich sind, und ich hoffe, dass ein solcher Wandel früher oder später einsetzen wird. Denn die derzeit herrschenden westlichen Eliten sind so tief degradiert, dass es unmöglich ist, mit ihnen zu verhandeln. Natürlich ist es notwendig, mit ihnen zu reden. Schließlich gibt es neben den Atomwaffen noch ganz andere Bedrohungen. Da ist die Drohnenrevolution. Cyberwaffen sind entstanden. Künstliche Intelligenz ist aufgekommen. Biologische Waffen sind entstanden, die die Menschheit ebenfalls mit schrecklichen Problemen bedrohen können. Russland muss eine neue Theorie zur Eindämmung all dieser Bedrohungen entwickeln. Daran arbeiten wir, auch im neuen Institut für internationale Militärwirtschaft und Strategie. Wir arbeiten daran und werden dies auch weiterhin mit den intellektuellen Eliten der Länder der Weltmehrheit tun. Das sind in erster Linie unsere chinesischen und indischen Freunde. Wir werden auch mit unseren pakistanischen und arabischen Kollegen darüber sprechen. Der Westen hat uns bisher nichts Konstruktives zu bieten. Aber wir verschließen unsere Türen nicht.

Leider kann es in absehbarer Zeit keine ernsthaften zwischenstaatlichen Vereinbarungen zur Rüstungsbegrenzung geben. Einfach deshalb, weil man nicht einmal weiß, was und wie man begrenzen soll. Aber wir müssen neue Ansätze entwickeln und unsere Partner in der Welt zu realistischeren Ansichten bringen. Es ist nicht einmal technisch möglich, in den nächsten Jahren mit irgendwelchen Rüstungsbegrenzungsabkommen zu rechnen. Es wäre einfach eine sinnlose Zeitverschwendung. Es mag zwar möglich sein, einige Verhandlungen zu Pro-forma-Zwecken zu führen. Zum Beispiel, um neue Bereiche des Wettrüstens zu verbieten. Ich bin besonders besorgt über biologische Waffen und Waffen im Weltraum. In diesem Bereich kann etwas getan werden. Aber jetzt muss Russland zuallererst ein neues Konzept der Abschreckung entwickeln, das nicht nur militärische, sondern auch psychologische, politische und moralische Aspekte umfasst.


Sind Einschätzungen, dass sich der Westen mit der Niederlage von Kiew abgefunden hat, verfrüht? Und dass der globale Süden die westliche Welt souverän besiegt?

Sergej Karaganow: Die Konfrontation in der Ukraine ist günstig für die USA. Für die europäischen Eliten ist sie die einzige Rettung, um den moralischen Zusammenbruch zu vermeiden. Daher werden sie den Konflikt in der Ukraine noch lange Zeit unterstützen. In einer solchen Situation müssen wir sowohl vor Ort als auch im Bereich der strategischen Abschreckung entschlossen handeln, um die von uns gesetzten Ziele so schnell wie möglich zu erreichen. Gleichzeitig muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Weltmehrheit den Westen keineswegs bekämpfen wird. Viele Länder sind an der Entwicklung von Handels- und anderen Beziehungen mit dem Westen interessiert. Daher ist die Weltmehrheit ein Partner, aber kein Verbündeter Russlands. Wir müssen also hart, aber überlegt handeln. Ich bin mir fast sicher, dass wir mit der richtigen Politik der Eindämmung und einer aktiven Politik in der Ukraine den Willen des gefährlichen Widerstands des Westens brechen können.

In der heutigen Welt ist jeder auf sich allein gestellt. Es ist eine großartige multipolare, vielfarbige Welt. Das bedeutet nicht, dass es in 20 Jahren einige Blöcke geben wird, einschließlich eines pro-russischen Blocks. Wir müssen uns selbst finden, wir müssen verstehen, wer wir sind. Eine große eurasische Macht, Nordeurasien. Ein Befreier der Nationen, ein Garant des Friedens und ein militärisch-politischer Dreh- und Angelpunkt der Weltmehrheit. Das ist die uns zugedachte Rolle. Darüber hinaus sind wir aufgrund unserer kulturellen Offenheit, die wir wiederum aus unserer Geschichte gewonnen haben, in einzigartiger Weise auf diese Welt vorbereitet. Wir sind religiös offen. Wir sind national offen. Das sind alles Dinge, die wir jetzt verteidigen. Und mehr und mehr erkennen wir, dass das Wichtigste an uns der russische Geist und die russische Kultur sind. Wir sind alle Russen - russische Russen, russische Tataren, russische Tschetschenen, russische Jakuten ... Ich glaube, wir finden wieder zu uns selbst. Und ich gehe in das neue Jahr mit einem Gefühl von geistigem Auftrieb und Optimismus. Russland wird wiedergeboren. Das ist absolut offensichtlich.
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03 März 2022

Tränen als Zeichen der Loyalität

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Chodorkowskij Interview

Zu Stalins Zeiten war die Prozedur der öffentlichen Buße unter den sowjetischen Kommunisten sehr beliebt:

Ein Kommunist, der der ideologischen Schwäche verdächtigt wurde, musste öffentlich für seine Sünden (einschließlich seiner "falschen" Herkunft) Buße tun und sich vor der Kommunistischen Partei auf jede erdenkliche Weise "entwaffnen". Eine der wirksamsten Methoden für eine solche Selbstkasteiung war es, so aufrichtig wie möglich zu weinen. Doch selbst eine unverfälschte und tränenreiche Reue "vor Partei und Volk" funktionierte meistens nicht ganz einwandfrei: Der schuldige Kommunist stand trotzdem lange Zeit oder für immer unter Verdacht. Für viele endete dieser Verdacht schließlich mit Erschießung.

Überraschenderweise existiert dieses Erbe der grausamen stalinistischen Vergangenheit im Jahr 2022 immer noch, allerdings nicht mehr in Russland, sondern im sogenannten demokratischen Europa. Der ehemalige russische Oligarch Michail Chodorkowskij, der sonst kaum im Verdacht stehen kann, übermäßig sentimental zu sein, gab neulich eine Meisterklasse in der Disziplin der öffentlichen Buße, indem er bei der Beantwortung einer Signalfrage des dirigierenden ukrainischen Journalisten vor der Kamera plötzlich in Tränen ausbrach. Vielleicht hilft ihm das, seine Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, aber wie wir bereits wissen, bleibt der schuldige Kommunist auch nach seiner Reue verdächtig...


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13 November 2020

Auf Westen ist kein Verlass

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Lawrow Übersetzung

Gestern redete der russische Außenminister Lawrow stundenlang Tacheles im russischen Staatsfernsehen.

Die Zitaten aus seinem sog. Interview für russische und ausländische Medien zu aktuellen Fragen der internationalen Tagesordnung werden nun sicher in Massenmedien auftauchen.

Besonders interessant scheint mir eine Stelle, wo Lawrow über die Beziehungen mit dem "Westen" redet. Wenn man bedenkt, dass er damit mit Sicherheit auch die Meinung des Präsidenten Putin zum Ausdruck bringt, sieht die Situation wohl nicht gerade optimistisch aus.

Hier ist die (natürlich inoffizielle) Übersetzung ins Deutsche:

Wir sind nicht mehr in der Lage, unsere Politik, unsere Handels- und Energiepläne, grundsätzlich alle anderen Pläne der Kommunikation mit der Außenwelt, vor allem mit dem Westen, aufzubauen, und dabei sicher zu sein, dass unsere Vereinbarungen von westlichen Partnern tatsächlich respektiert und erfüllt werden. Der Westen hat sich als völlig nichtverhandlungsfähig und unzuverlässig erwiesen. Er zeigt seine Anfälligkeit für Versuchungen, geopolitische Spiele zu spielen und die Politik über die Wirtschaft zu stellen. Dabei ignoriert er den gerechten Geschehensablauf auf der Krim nach dem Staatsstreich in der Ukraine, als die russischsprachigen Bürger, die Russen, sich weigerten, die Ergebnisse dieser Entwicklung hinzunehmen. Ich habe bereits darüber gesprochen. Dies war der Grund, warum der Westen Sanktionen verhängte. Der Westen erkannte seine völlige Hilflosigkeit an, als er diesen Putsch <in der Ukraine> nicht verhindern konnte, und dabei das von der EU ausgearbeitete Abkommen zerstörte. Es gibt viele Beispiele, wo der Westen einfach seinen Ärger an uns auslässt, weil er selbst grobe Fehler und Misserfolge in seiner Politik begangen hat. Wir müssen das nun berücksichtigen.

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27 Mai 2020

Interview

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Girkin ist Strelkow

Das umstrittene Interview des ukrainischen Journalisten Dmitrij Gordon mit dem ehemaligen pro-russischen Anführer der Donezk-Miliz Igor Girkin / Strelkow schlägt immer noch hohe Wellen.


Für die einen ist Strelkow ein Terrorist und Massenmörder, für die anderen ist er ein von der fixen imperialen Idee besessener und tollkühner russischer Patriot.

Die Geschichte des Krieges in der Ostukraine wird – wie auch sonst oft – mit Blut und Leid geschrieben und dazu noch schwer verifizierbar, darum wäre eine oberflächliche Auseinandersetzung mit einem solchen Thema, geschweige denn Abstempelung, sicherlich nicht angebracht. Darüber hinaus war das Interview, in dem es um den Tod, Morde, Hinrichtungen und Verrat ging und welches immerhin mehr als 3,5 Stunden dauerte, nicht unbedingt für einen besinnlichen Abend am PC zu empfehlen. Doch bereits nach den ersten Minuten fühlte man sich vom Geschehen auf dem Bildschirm irgendwie gefesselt. Schließlich war es ein äusserlich durchaus respektvolles und offenes Gespräch zwischen zwei Menschen, die sich in der Realität u. U. vielleicht abknallen könnten.

Als Kostprobe kommt nun die Übersetzung eines winzigen Interviewausschnitts (entspricht ca. 3 Minuten 38 Sekunden des Videos von 2:36:55 bis 2:40:33).

***

Gordon
Ich kann unmöglich keine Fragen zur Boeing MH-17 stellen. Wenn Sie aber die eine oder die andere Frage nicht beantworten möchten, beantworten Sie sie nicht. Das ist absolut Ihr Recht.
Im vergangenen Sommer veröffentlichte die Gemeinsame Ermittlungsgruppe zum Fall MH-17 Telefongespräche der Anführer der Donezk-Republik mit Surkow (damals Putins Donezk-Beauftragter - RF) und Aksjonow (Leiter der russischen Krim-Verwaltung - RF). Daraus folgt, dass Sie im Juni 2014 den sogenannten Chef der annektierten Krim, Sergei Aksjonow, gebeten haben, bei der Zuweisung zusätzlicher militärischer Hilfe aus Russland mitzuwirken. <...>

Strelkow
Tatsächlich habe ich eine derartige Bitte um Hilfe formuliert, obwohl ich mich nicht buchstäblich daran erinnere.

Gordon
Eine Woche vor dem Absturz der malaysischen Boeing versicherte Surkow, dass Hilfe kommen würde. Wussten Sie, dass ausgerechnet Buk M1 Ihnen aus Russland zur Hilfe geschickt wurde?

Strelkow
Kein Kommentar. Die Miliz hat die Boeing nicht abgeschossen. Ich kann dazu nichts mehr sagen, und ich will das auch nicht.

Gordon
Dieser Flug, ein Passagierflugzeug...

Strelkow
Die Miliz hat die Boeing nicht abgeschossen. Keinen Kommentar mehr. Verschwenden Sie bitte keine Zeit, wir haben nicht viel davon.

Gordon
Ok, abgemacht. Dann lasse ich alles aus, was die Boeing betrifft.

Strelkow
Das wäre korrekt.

Gordon
Was war Ihr Gefühl, als Sie erfuhren, dass dieses Flugzeug abgeschossen wurde?

Strelkow
Das war für mich natürlich ein sehr großer... Das hat mich regelrecht in Bestürzung versetzt. Das sage ich ganz offen. Das ist wahr. Es starben ja fast 300 völlig unschuldige, unbeteiligte Menschen. Ich bin nicht so unempfindlich, wie viele Menschen vielleicht denken. Mit ist das nicht egal. Natürlich habe ich immer verstanden, dass ich - wenn auch indirekt - dafür verantwortlich bin, wo Kampfhandlungen in Donbass auch von mir maßgeblich mitgestaltet wurden. Verantwortlich für den Tod... Mehr noch. Es war nicht nur ein Schlag für mich in menschlicher Hinsicht, sondern ein Schlag für mich als Befehlshaber der Donezk-Miliz. Ein äußerst harter Schlag. Denn es ist doch klar: Egal, wer schuld ist, wir werden trotzdem beschuldigt. Das wird auf jeden Fall und unbedingt gegen uns ausgespielt. Ich habe übrigens nie an der Beteiligung der ukrainischen Seite (mindestens) am Boeing-Abschuss gezweifelt. Diese Meinung vertrete ich auch heute noch.

Gordon
Wurde die Boeing versehentlich abgeschossen? Kam es damals etwa zur Verwechslung? Was meinen Sie?

Strelkow
Nochmals - kein Kommentar. Was ich wollte, sagte ich ja bereits. Als Kriegspraktiker stelle ich mir immer als Erstes die Frage „Wem nützt das alles?“ Die Antwort ist offensichtlich. Weder die Donezk-Miliz noch die Russische Föderation waren an diesem Boenig-Abschuss interessiert.


Quelle

P.S.
Kürzlich hat sich Anne Phönix auf ihrem Youtube-Kanal zu diesem meinem Artikel (https://www.youtube.com/watch?v=h4G2VqjVsFk, ab ca. 26:30) geäußert, was mich zwar sehr freut, dennoch muss ich meine Kommentatorin leider korrigieren, damit keine Verwirrung bei den Lesern entsteht: Herr Girkin / Strelkow ist kein ukrainischer, sondern ein russischer Nationalist. Also was in dem obigen Artikel steht, ist schon richtig. Und das ist eigentlich der Clou der ganzen Geschichte. Igor Strelkow stammt aus Russland, war (nach seiner Aussage) FSB-Offizier, und er kämpfte in Donezk an der Seite der pro-russischen Miliz. Auch mit der Massenhinrichtung, die ukrainische Nationalisten in Odessa angestellt haben, hatte er natürlich nichts zu tun.
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16 März 2020

Apokalypse abgesagt

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Coronavirus

Das (gekürzte) Interview mit dem führenden Experten für Infektionskrankheiten Wladimir Nikiforow im unabhängigen russischen Fernsehkanal "Doschd".


***

Mein heutiger Gast ist Wladimir Nikiforow, Leiter der Abteilung für Infektionskrankheiten der Medizinischen Pirogow-Universität. Guten Abend!

Guten Abend!

Also, das Thema ist mir nicht bekannt. Darum werde ich naive Fragen stellen. Ich weiß nicht, wie sich eine Pandemie ausbreitet. Ich verstehe nicht, wie das Virus funktioniert. Aber ich kann nicht glauben, dass wir nur dreißig Kranke im ganzen Land haben. Das ist sehr schwer vorstellbar. Was ist mit den Tests, mit der Diagnose? Wie wird so was durchgeführt?

Nun, wie das technisch funktioniert, weiß ich natürlich. Es gibt eine Polymerasekettenreaktion, ein Abstrich, und dann schaut man, ob die RNA des Virus vorhanden ist oder eben nicht. Wie gesagt, wie das technisch gemacht wird, ist klar. Wer untersucht wird, ist im Prinzip auch nachvollziehbar.
Andererseits haben wir im Moment wahrscheinlich keine Möglichkeiten, um unseren Ärzten kurzerhand genug Testsysteme zur Verfügung zu stellen.

Sie sind also nicht vorhanden.

Das ist gut möglich. Eigentlich ist das heute überall so. In jedem Land wird diskutiert, wie viel Testsysteme vorrätig sind, wieso zu wenig und was man dagegen tun kann. Ich bin aber ein Kliniker und Facharzt für Infektionskrankheiten. Und die technische Ausstattung ist die Zuständigkeit des Rospotrebnadzor (Russischer föderaler Dienst für die Aufsicht im Bereich des Verbraucherschutzes und Schutzes des menschlichen Wohlergehens).

Und der Dienst macht seine Arbeit nicht besonders gut...

Kein Kommentar.

Das war mein Kommentar.

Dann bleiben wir einfach dabei, denn Kliniker und Rospotrebnadzor sehen manche Sachen grundsätzlich anders.

Alles klar. Dann nehmen wir mal an, dass es doch mehr angesteckte Bürger in Russland gibt als offiziell vermeldet. Fühlen Sie sich darauf vorbereitet?

Im Prinzip kann ich natürlich nicht ausschließen, dass wir nicht jeden Angesteckten abfangen können. Aber Geschichten über Tausende von Kranken und Verstorbenen, die Leichenschauhäuser buchstäblich überfüllen, gehören in die Kategorie der Wahnvorstellungen.

Solche Gerüchte waren kürzlich in Moskau im Umlauf.

Ich arbeite in der Klinik für Infektionskrankheiten. Ich kenne alle Spezialisten auf diesem Gebiet. Eigentlich gibt es nicht allzu viel davon in Russland. Also hätte ich in jedem Fall gewusst, wie es mit Leichen aussieht. Nochmals zur Klarheit: Selbst wenn man vermutet, dass es mehr Angesteckte als gemeldet gibt, dann sollte man vor allem davon ausgehen, dass der Verlauf der Krankheit bei diesen Menschen keine klinische Ausprägung hat. Sagen wir so: Der Bürger meint, er sei verschnupft.
Also wirklich schwerkranke Patienten, die irgendeine Art von Therapie oder Intensivtherapie benötigen, gibt es im Moment nicht.

Das wundert mich aber. Wo sind sie denn?

Das weiß ich nicht.

Vielleicht liegt es daran, dass Russland geografisch ziemlich isoliert ist?

Kann sein. Es ist aber auch lobenswert, dass wir unsere Grenzen rechtzeitig zugemacht haben.
Meiner Meinung nach ist selbst eine Überreaktion in solchen Fällen durchaus berechtigt. Auch Temperaturmessungen waren richtig...

Welche Temperaturmessungen denn? Die Temperatur wurde in den Flughäfen nach dem Landen auch Ende Februar noch nicht gemessen. Wie es im Moment aussieht, weiß ich nicht.

Also, ich war in Peking Anfang Februar. (Bitte fallen Sie nicht in Ohnmacht - meine Tests sind negativ.) Schon damals gab es diese Prozedur im Flughafen.

Bei mir nicht.

Ich kam aber aus Peking.

Ach ja, aus Peking, dann ist es klar. Nun zum anderen Thema. In den letzten Tagen wird viel über die sogenannte ambulant erworbene Pneumonie gesprochen. Rasanter Zuwachs. Verstehen Sie, was das ist?

Das verstehe ich sehr wohl. Und an diesem neuen Hype bin ich wahrscheinlich zum Teil auch selbst schuld. Denn ich habe ja bei allen meinen Interviews wiederholt, dass es ziemlich dumm ist, von einem schrecklichen und tödlichen Coronavirus zu reden, an welchem in China bis vor kurzem „nur“ ein paar tausend Menschen starben, während wir in Russland nach offiziellen Angaben jährlich ca. 700 tausend Fälle ambulant erworbener Pneumonie registrieren. Aber es ist nichts anderes als nur eine Pneumonie, die halt außerhalb eines Krankenhauses - sozusagen „auf den Beinen“ - durchgemacht wird. Sie kann beispielsweise die Folge einer Grippe sein.
Die Ziffer von 700 Tausend Kranken jährlich für 140 Mio. russische Bevölkerung ist schon beeindruckend. Und wenn wir nun davon ausgehen, dass die Letalität dieser Krankheit bei ca. 2% liegt, dann haben wir bereits 14000 Tote jedes Jahr nur wegen der ambulant erworbenen Pneumonie.
Wenn wir jetzt diese Ziffer mit der Zahl der weltweiten Coronavirusopfer vergleichen, dann ist die ambulant erworbene Pneumonie für uns immer noch dreimal gefährlicher als das Coronavirus. Das war mein Gedanke. Aber vielleicht habe ich zu viel darüber gesprochen. Und jetzt ist der Begriff in unseren Medien halt aktiv im Umlauf.

Es war also nur zur Veranschaulichung.

Und die Massenmedien haben daraus einen Mischling aus der ambulant erworbenen Pneumonie und dem Coronavirus gebastelt. Darüber hinaus gibt es seit ein paar Wochen eine Verordnung, dass alle Patienten mit Pneumonie auch automatisch auf das Coronavirus getestet werden. Dazu kommt noch, dass Menschen heute viel mehr auf ihre Gesundheit aufpassen. Und der Rettungsdienst bringt einen dann sofort ins Krankenhaus. Noch vor einem Jahr musste man die Einlieferung ins Krankenhaus bei Pneumonieanzeichen beim Rettungsdienst regelrecht erflehen. Heute wird man notfalls auch mit der Polizei eingeliefert. Eine ganz andere Situation also.

Wie auch immer haben wir in Moskau für heute ca. 30 Coronaviruspatienten. Und rational gesehen kann ich mich ja mehr oder weniger sicher fühlen. hrend zum Beispiel in Italien die Situation wirklich kritisch zu sein scheint. Ich sehe all das und verstehe, dass dies eine richtige Herausforderung für das gesamte System des Gesundheitsschutzes ist, dass es noch mehr Menschen krank werden, und dass das System auch zusammenbrechen kann. Auch wenn wir heute optimistische Behördenberichte lesen, die ich nicht wirklich glaube, trotzdem kann sich die Situation noch zuspitzen. Nicht wahr?

Nicht unbedingt. Jede Epidemie hat, sagen wir so, eine standardmäßige Entwicklung, falls sie nicht bewusst manipuliert wird. Demnach wird jedes Virus mit der Zeit weniger virulent, also weniger aggressiv. Das Virus braucht keine Schwerkranken und keine Toten. Es braucht Träger, die es leicht aushalten. Das war schon immer so. Das Coronavirus existiert seit 1965. Und Viren dieser Art provozierten den banalen Schnupfen. Das, was wir allgemein respiratorische Infektion nennen, ist eigentlich eine Art Oberbegriff, der zu ca. 20% eben aus Coronaviren besteht.
Ich kann Ihnen zusichern, das heute furchterregende COVID-19 degradiert bald zu einer Schnupfen-Infektion, vielleicht mit etwas Husten und leichtem Fieber. So ist die Logik des Prozesses.

Also ist der weltweite katastrophale Spektakel bald zu Ende?

Natürlich.

Wann?

Schauen Sie einfach, wie es in China vor sich geht. Sie haben schnell Lazarette gebaut, nun sind sie am Demontieren. Es ebbt also ab. Ich habe bereits vor Wochen gesagt, dass sich die Situation da drüben zum März stabilisieren wird. Das hat sich nun als korrekt erwiesen.

Chinesen haben aber harte Maßnahmen ergriffen...

Genauso wie das Virus. Aber ich wiederhole: Tote Menschen sind für das Virus auf Dauer nutzlos. Die Natur macht keine Dummheiten. Die Menschen aber schon. Nur der Mensch ist fähig, Dummheiten zu machen. Die Natur ist vernünftig. Wie auch immer ist China bereits über den Berg.

Kann auch Italien bald ausatmen?

Sicher. Auch in Italien bildet sich eine Immunschicht. Wir konzentrieren uns medienbedingt auf Schwerkranke, aber es gibt inzwischen auch eine ganze Menge Menschen in Italien, die das Coronavirus relativ leicht überstehen konnten. Daraus bildet sich die Immunschicht.
Wegen meines Berufs darf ich ja etwas zynisch sein, darum sage ich: Bestimmt wird es Menschen geben, die am Coronavirus sterben, aber wir sterben ja schließlich alle.

Also als Fachmann sehen Sie keine Gründe für einen Notstand hier in Moskau?

Ich sehe ein ernstzunehmendes Problem, aber keine Katastrophe und keine Apokalypse. Apokalypsen werden ja regelmäßig angekündigt. Am Ende ist das nur heiße Luft.

Meinen Sie jetzt Russland oder global?

Global.

Ist die Lage in Russland besser als global?

Im Moment haben wie es etwas besser. Ob es auch weiter so bleibt, kann keiner wissen. Wir hoffen auf positive Entwicklung, aber wir bereiten uns auch weiter vor. Ich würde das so formulieren, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Auf jeden Fall ist die Hysterie nicht angebracht und kontraproduktiv.

Sind also weltweite Einschränkungen und Quarantäne nur Überreaktionen?

Ich glaube schon. Oder nennen wir das anders: Das ist eine Übung. Sie kann ja nicht schaden, falls etwas Ernstes passiert.

Alles klar. Eigentlich ist es angenehm, das Gespräch gerade in diesen Tagen so positiv ausklingen zu lassen.

Unser Gast Wladimir Nikiforow sagt die Apokalypse weltweit und insbesondere in Russland ab, wo die Lage wahrscheinlich doch so ist, wie sie offiziell dargestellt wird.

Quelle
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08 März 2018

Die Frage

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Der Ausschnitt aus einem Fernsehinterview mit Wladimir Putin. Mit russischen Untertiteln.










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12 November 2017

Interview mit dem Fachflüchtling

3
Bericht-Übersetzung: Fachflüchtling aus der Ukraine
Der Journalist des weißrussischen „Euroradios“ lernte Igor per Zufall kennen. Hier kommt sein Bericht in deutscher Übersetzung.

Dieser gepflegte Mann in mittleren Jahren begegnete ihm auf dem Minsker Bahnhof. Igor will nicht fotografiert werden. Er sagt, das wäre geschäftsschädigend. Er nennt sich einen Fachflüchtling und macht aus seinem Knowhow kein Geheimnis.


Euroradio:
Wie wurden Sie zum professionellen Flüchtling?

Igor:
Eigentlich rein zufällig. Ich komme aus der Westukraine. 1993-1994 arbeitete ich in Polen und Tschechien. Mein Arbeitgeber schuldete mir Geld. Eines Tages sagte er mir: „Wenn Du willst, gebe ich Dir statt des Geldes einen sehr guten Tipp. Dafür wirst Du mir Dein ganzes Leben dankbar sein, denn er bringt Dir viel mehr, als die Summe, die ich Dir schulde. Abgemacht?“ Ich stimmte zu.

Dann erzählte er mir, wie man zu einem Illegalen Einwanderer in Bayern wird, und wie man sein Leben dort in vollen Zügen genießen kann. Diese Anweisungen habe ich mir tüchtig eingeprägt.

Ich erinnere mich immer noch sehr gut an meinen ersten „Einsatz“. Es war im Oktober 1994. Ich weiß sogar immer noch ganz genau, wie meine Route ins neue Leben verlief. Der Weg startete im tschechischen Domažlice, dann lief ich durch den Wald über die Grenze in Richtung Bayern. Der Chef gab mir eine gute Karte.

Genaugenommen waren wir zu zweit mit meinem Freund, beide knapp 25 Jahre alt. Wir haben uns auf diese Reise wie richtige Spione vorbereitet: zum Essen hatten wir sogar Marmelade in Tuben gekauft. Wir wussten auch, dass ein richtiger Flüchtling unbedingt neue Kleider (Schuhe, Hosen, Jacke) mitnehmen muss. Man muss sich auch sofort umziehen, sobald man es über die Grenze schaffte. Alte Klamotten sind dabei umgehend zu entsorgen - am besten in einen Sack einpacken und im Wasser versenken.

In Deutschland ging es dann ganz flott: Per Anhalter fuhren wir mit einem Bus nach Regensburg, dann weiter bis nach München. Die Adresse der Aufnahmestelle für Flüchtlinge in München war uns natürlich auch bekannt. Dort haben wir uns „ergeben“. Wichtig: ohne Pässe!

Euroradio:
Also ins neue Leben ohne Pass?

Igor:
Das ist ein Muss! Nur so bekommt man die nötige Handlungsfreiheit, indem man jede beliebige Identität annehmen kann, Hauptsache - nicht die eigene!

Wenn man aber seinen Pass nur versteckt, dann kommt früher oder später bestimmt ein Moment, wo der Pass sehr unpassend zum Vorschein kommt. Die Faustregel ist: ohne Pass bis du ein König, mit dem Pass hast du Probleme. Also jenseits der Normalität.

Die weitere Prozedur ist dann eigentlich routinehaft: in der Aufnahme erklärt man, dass man Asyl braucht und keine Papiere hat. Die Beamten fragen nach dem Namen. Man nennt sich, wie man will. Als Nächstes wird man in den Speiseraum verwiesen. Das bedeutet, dass man schon „an Bord“ ist.
Es vergehen dann ein paar Wochen in einem Umverteilungslager. Dort wird entschieden, wohin der Migrant weiter verlegt wird. Bei meinem ersten Mal in Deutschland bin ich schlussendlich in Kempten gelandet. Während meines Aufenthalts gab es Interviews. Als Erstes kommt die Frage nach dem Weg, wie man also nach Deutschland gekommen ist. Dann muss man Motive nennen, warum das Asyl beantragt wird. Die Motive können unterschiedlich sein: politisch, religiös, moralisch und, nicht zuletzt, gesundheitlich.

Das mit der Gesundheit wird oft und unverdient außer Acht gelassen, ist aber eine tolle Begründung: Man kann tatsächlich sagen, dass man krank sei, und diese Krankheit in der Heimat nicht kurierbar wäre. Und die Behörden haben das hinzunehmen. In diesem Fall werden manche Formalitäten sogar zurückgesteckt. Und man wird dann monatelang ärztlich behandelt, dabei kriegt man einen anständigen Wohnraum und ein paar hundert Euro bar.

Aber auch in den Heimen lebt es sich gar nicht so schlimm. Die Verpflegung ist perfekt: Fleisch, Fisch, alles, was man will. Essen gibt es dreimal pro Tag, und in keiner Weise limitiert.

Der Tagesablauf gestaltet sich in etwa so: der Tag beginnt mit dem Frühstück, dann geht man in die Stadt spazieren, danach kommt man zum Mittagessen, anschließend folgen ein weiterer Spaziergang und das Abendessen.

Als Asylbewerber bekommt man, wie gesagt, auch bares Geld. Aber mit der Zeit reicht es immer weniger aus. Andererseits darf man in diesem Status nicht arbeiten. Darum werden so gut wie alle Flüchtlinge zu Dieben. Man fängt praktisch zwangsläufig an, alles Mögliche in Geschäften zu klauen: Essen, Kleider, alles.

Und wenn man so was mehrere Jahre lang Tag für Tag macht, dann stellt man sich am Ende gar kein anderes Leben vor. Und man kommt schon gar nicht mehr auf den Gedanken, eine Arbeit zu suchen. Diebstähle werden auch dadurch provoziert, dass man dafür nur sehr milde bis gar nicht bestraft wird.

Auch sonst kann ich mir keine Situation vorstellen, wo sich die Behörden einen Flüchtling so richtig vornehmen. In der Regel kriegt man ganz schnell neue Papiere und Kärtchen (Bankkarte und Krankenversicherung), und ist dann ein freier Mann.

Die Prozedur der regelmäßigen Verifizierung des Flüchtlingsstatus ist bei weitem formell. Und wenn man bereit ist, ein paar hundert Euro für den Anwalt auszugeben, dann verlässt man Deutschland garantiert nie.

Euroradio:
Na gut, aber auch dieses Geld muss man erst finden...

Igor:
Wie ich schon sagte, es wird geklaut auf Teufel komm raus. Zum Beispiel lässt man ein paar teuere Jacken aus den Geschäften mitgehen. Dann werden sie an bekannte Schieber zum halben Preis verkauft. Mit etwas Glück hat man dann ganz schnell bis 500 Euro in der Tasche. Die Technik, wie man unbemerkt klaut, wird schnell erlernt. In jedem Heim gibt es genug gute Lehrer. Aber selbst wenn man auf frischer Tat ertappt wird, ist das überhaupt kein Problem. Man wird ja sowieso fast nie verhaftet und bestraft. Und wenn schon, dann kann der deutsche Knast eher als eine Art Erholungsheim betrachten werden. Alle wissen das, und keinen schreckt das ab.

Euroradio:
Bestimmt besuchen Sie Ihre Heimat. Oder?

Igor:
Ab und zu schon. Zum Beispiel als meine Mutter krank wurde. Manchmal wird einem auch der endlose asylantische Müßiggang zum Kotzen. Dann geht man zur zuständigen Behörde und sagt, dass man nun Schluss mit dem Theater machen möchte. Dann wird die Akte ordnungsgemäß abgeschlossen, und man kriegt sogar eine Abrechnung. Einmal konnte ich auf diese Weise 6700 Euro „für die Heimreise“ ergattern.

Die Ausreise sieht nicht nach einer Abschiebung aus. Man kriegt einfach Geld und Tickets in die Hand gedrückt und fliegt bequem nach Hause. So ist das System. Ich habe es bereits in den Niederlanden, Deutschland, Norwegen, Schweden und Finnland ausprobiert. Es funktioniert überall bestens. Aber in meiner Liste gibt es immer noch Länder, die einen Flüchtlingsbesuch wert sind.

Euroradio:
Warum haben Sie als Flüchtling nicht geheiratet? Zum Beispiel in Deutschland.

Igor:
Es gibt nichts Einfacheres als das. Eine deutsche Dame hat es mir sogar selbst angeboten. Sie wollte mich naiv damit locken, dass ich dadurch einen vollwertigen legalen Status bekomme. Aber wenn ich mit diesem legalen Status gegen das Gesetz verstoße, dann gerate ich definitiv hinters Gitter. Brauche ich das wirklich? Der Flüchtlingsstatus ist doch viel günstiger.

Euroradio:
Alles klar. Sie sind ja sowieso verheiratet...

Igor:
Ja, ich habe in der Ukraine geheiratet. Jetzt habe ich schon zwei Söhne: 7 Jahre und 3 Monate alt. Aber es ist natürlich schwer, ohne Familie im Ausland zu leben.

Euroradio:
Wozu verlassen Sie dann immer wieder Ihre Heimat?

Igor:
Das ist doch wie eine Dienstreise: man kommt nach Europa als Flüchtling, um die Familie zu Hause zu versorgen. Aber denken Sie bitte bloß nicht, dass mein Leben leicht ist. Man ist ja immer allein, man hat Heimweh. Und man spielt öfters mit dem Gedanken, die Familie zu sich zu holen. Das ist aber nicht so einfach. Eigentlich ist es finanziell viel günstiger, Kinder und Ehefrau nach Europa zu bringen. So kann man in 5 Jahren sogar ein kleines Vermögen fürs Leben ansammeln... Ich denke darüber nach.

Euroradio:
Und was halten Sie von Weißrussland?

Igor:
Nichts. Aus der Sicht eines Flüchtlings ist das Land uninteressant. Ich habe hier sofort gesagt bekommen, dass ich keine Chancen als Flüchtling habe. Etwas bessere Aussichten haben nur Ostukrainer und nur aus den Gebieten, wo es wirklich Krieg gibt. Gute Flüchtlingsperspektiven haben Ukrainer in Russland, besonders wenn sie wehrpflichtig sind. So versucht Russland wohl die Kampfkraft der ukrainischen Armee zu schwächen. Für mich als Westukrainer wäre das alles aber völlig sinnlos: ein russisches Heim würde für mich sofort zur Hölle. Außerdem mag ich die russische Mentalität nicht. Also komme ich bald schon wieder nach Europa.

Aber mein großes Ziel ist Kanada. Die sind richtig großzügig! Besonders, wenn man die Familie gleich mitnimmt. Ich weiß, dass Flüchtlinge in Kanada sehr große Kredite aufnehmen dürfen. Bis zu einer Million Dollar. Dann haben wir ein ganz leichtes Spiel: mit dem großen Geld zurück nach Hause. Das würde uns ja bis zum Lebensende reichen!

Euroradio:
Wie lange sind Sie schon in Weißrussland?

Igor:
Seit einer Woche. Aber ich habe es satt. Neulich wurde ich hier fast verhaftet, weil ich im Park Alkohol getrunken habe. Ich habe das unauffällig gemacht, trotzdem hat die Polizei mich erwischt, allerdings dann auch bald freigelassen.

Euroradio:
Wollen Sie, dass auch Ihre Kinder Fachflüchtlinge werden?

Igor:
Eigentlich nicht, aber sie sollten wissen, dass es sowas gibt. Vielleicht können sie meine Erfahrung eines Tages gut gebrauchen. Ich bleibe aber in diesem "Beruf" für den Rest meines Lebens. Das ist profitabel und... romantisch, verstehen Sie. Man gewöhnt sich daran, und jede andere Lebensweise wird dann zu fade.

Quelle
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