17 April 2018

Einsamkeit eines Halbblüters


Dieser Mann hat in der westlichen Presse viele Namen: Putins Rasputin, Graue Eminenz im Kreml, Chefideologe Russlands, Demiurg des Kremls, Mastermind des Putinismus, Ex-Vize-Ministerpräsident und wohl immer noch der Chef der russischen staatlichen Propaganda.

Eigentlich heißt er Wladislaw Surkow, der Mann, für dessen Gedanken offensichtlich auch Putin ein offenes Ohr hat. Und hier kommt sein Artikel.

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Arbeit ist nicht gleich Arbeit. Es gibt Arbeit, die man nur in einem etwas anormalen geistigen Zustand verrichten kann. So steckt hinter dem durchschnittlichen Prolet der Informationsindustrie in der Regel ein Mann mit einer wirren Denk- und fieberhaften Handlungsweise. Das ist auch kein Wunder, denn das Nachrichtengeschäft setzt Eile voraus: erfahren, berichten, auslegen – überall muss man die Nase vorn haben.

Die Aufregung des News-Produzenten färbt auf News-Konsumenten ab. Die aufgeregten Nachrichtenverbraucher halten irrtümlicherweise ihre eigene Aufregung für einen Denkprozess. Dadurch werden langlebige Werte wie „Überzeugungen“ und „Prinzipien“ aus dem Alltag verdrängt und durch Einweg-Meinungen ersetzt. Das ist auch der Grund für zahlreiche falsche Prognosen, die aber kaum jemanden mehr in Verlegenheit bringen. Das ist eben der Preis für schnelle und frische Nachrichten.

Aber das überwältigende Umgebungsgeräusch der Massenmedien macht das spöttische Schweigen des Schicksals kaum noch hörbar. Fast unbemerkt bleiben dabei langsame und massive Nachrichten, die nicht von der Oberfläche, sondern aus den Tiefen des Lebens kommen. Aus jenen Tiefen, wo sich geopolitische Strukturen und geschichtliche Epochen bewegen und zusammenprallen. Den Sinn dieser Nachrichten begreifen wir (zu) spät. Aber besser später als nie.

Auf das Jahr 2014 besinnt man sich in Verbindung mit wichtigen und sehr wichtigen Ereignissen, die allen gut bekannt sind. Das wichtigste Ereignis aus jener Zeit offenbart sich aber nur allmählich, diese langsame, tiefliegende Nachricht erreicht uns erst heute. Das Ereignis nennt sich den Abschluss einer epischen Reise Russlands nach Westen. Es bedeutet das Aufhören mit zahlreichen ergebnislosen Versuchen Russlands, ein Teil der westlichen Zivilisation zu werden und sich mit der „guten Familie“ europäischer Völker zu verschwägern.

Mit 2014 fängt die russische Epoche 14+ an. Diese Epoche der geopolitischen Einsamkeit wird sich auf eine völlig unbestimmte Zeit (200, 300 Jahre?) erstrecken.

Die Westernisierung, die der Falsche Dmitri seiner Zeit einleitete, und die vom Peter dem Großen fortgeführt wurde, hatte in Russland alle möglichen Formen durchgemacht. Russland ließ kaum etwas unversucht, um sich mal Holland, mal Frankreich, mal Amerika, mal Portugal zu ähneln.

Mit vollem Einsatz versuchte es, sich in die westliche Welt regelrecht hineinzupressen. Alle Ideen und Anregungen, die aus dem Westen kamen, nahm die russische Elite mit einer riesigen (zum Teil evtl. übertriebenen) Begeisterung auf.

Russische Zaren heirateten tüchtig deutsche Prinzessinnen, russischer Adelstand vervollständigte sich aktiv mit sogenannten „wandernden Fremden“. Aber die Europäer in Russland verwandelten sich schnell in Russen, während sich die Russen kaum europäisieren ließen.

Die russische Armee kämpfte sieg- und opferreich in allen großen europäischen Kriegen, die es auf diesem von Massengewalt und Blutgier rekordverdächtig geplagten Kontinent mehr als genug gab. Große Siege und große Opfer brachten Russland viele westliche Territorien, aber keine Freunde.
Der westlichen (damals religiös-monarchischen) Werte wegen regte Sankt-Petersburg die Heilige Allianz dreier Monarchien an, und trat auch als ihr Schirmherr auf. Russland erfüllte damals seine Verbündetenpflichen redlich, als es Habsburger vor dem ungarischen Aufstand schützte. Aber als Russland selbst in eine schwierige Lage geriet, eilte Österreich nicht gerade zur Hilfe, ganz im Gegenteil – es trat gegen Russland auf.

Dann wurden die westlichen Werte anders: Marx kam in Paris und Berlin in Mode. Gewisse Bewohner in Simbirsk und Janowka (RF: Geburtsorte von Lenin und Trotzki) wollten es „wie in Paris“ haben. Sie hatten ja Angst, mit dem damals auf den Sozialismus versessenen Westen nicht mitzukommen. Sie fürchteten, dass die Weltrevolution, angeblich von europäischen bzw. amerikanischen Werktätigen angeführt, ihre Krähwinkel außer Acht lässt. Sie gaben sich Mühe.
Aber sobald der Sturm des Klassenkampfes vorbei war, musste die mit dem unglaublich tragischen Aufwand aufgebaute UdSSR feststellen, dass es gar keine Weltrevolution stattfand, und dass die westliche Welt gar nicht von „Arbeitern und Bauern“, sondern von Kapitalisten regiert wird. Schlussendlich wurde man gezwungen, die zunehmenden Symptome eines autistischen Sozialismus hinter dem Eisernen Vorhang zu verstecken. Zum Ende des vergangenen Jahrhunderts wurde Russland mit seiner „einzigartigen“ Rolle satt. Es wollte mal wieder nach Westen.

Dabei überlegte man sich anscheinend, dass die Größe manchmal doch eine Rolle spielt: Russland sei für Europa zu groß, furchterregend riesig. Also galt es dann, alles zu kürzen: Territorium, Bevölkerung, Wirtschaft, Armee, Ambitionen – bis auf das durchschnittliche mitteleuropäische Niveau. Auf diese Weise erhoffte man sich ein besseres europäisches Aussehen. Gesagt getan.
Der Glaube an Marx wurde prompt durch den Glauben an von Hayek ersetzt. So wurde das demographische, wirtschaftliche und militärische Potenzial glatt halbiert. Die Sowjetrepubliken wurden weggescheucht. Die russischen Teilrepubliken waren an der Reihe. Aber auch nach den ganzen Abtragungen konnte Russland die westliche Kurve doch nicht kriegen.

Dann traf man die Entscheidung, mit Selbstverstümmelung aufzuhören und - sieh mal einer an - sogar seine Rechte zu beanspruchen. Ab dem Moment wurden die Ereignisse des Jahres 2014 unumgänglich.

Russische und europäische Kulturmodelle sehen zwar sehr ähnlich aus, haben aber unterschiedliche "Software" und "Interfaces". Eine Vernetzung ist nicht möglich. Heute, als dieser alte Verdacht zur Tatsache geworden ist, werden Stimmen laut, ob man sich doch lieber dem asiatischen Osten zuwenden sollte. Nein.

Dort war Russland bereits. Das Moskauer Urreich wurde in einem komplexen militärpolitschen Coworking mit der Goldenen Horde aufgebaut. Sei das ein Bündnis oder ein Joch gewesen, in jedem Fall wurde die östliche Entwicklungsrichtung schon mal gewählt und ausprobiert.

Selbst nach dem Stehen an der Ugra (RF: die wochenlange Schlachtaufstellung zwischen der Goldenen Horde unter Akhmat Khan und dem russischen Heer unter Iwan III. im Jahr 1480, die nicht zu einer tatsächlichen Schlacht führte) blieb das russische Reich ein Teil Asiens. Es eroberte östliche Territorien. Es beanspruchte byzantinische Erbe, die Erbe des „asiatischen Roms“. Es wurde sehr stark von adligen hordischen Familien beeinflusst. Der Höhepunkt der asiatischen Ausrichtung war die (von Iwan dem Schrecklichen angeregte) Bestellung den Khan von Kassimow Sajin Bulat zum russischen „Alleinherrscher“. Historiker führen gewöhnlich diese „Ausschreitung“ von Iwan dem Schrecklichen ausschließlich auf seine angeborene Überspanntheit zurück.

Doch so einfach war es nicht. Nach Iwan dem Schrecklichen bildete sich eine durchaus starke Partei, die Sajin Bulat als einen wirklichen Herrscher sehen wollte. Es kam sogar so weit, dass der spätere Zar Boris Godunow von seinen Bojaren (RF:Adel) verlangte, dass sie öffentlich „dem Zaren Sajin Bulat und seinen Kindern abschwören“.

Also war Russland schon mal kurz davor, sich unter das Zepter von Dschingis-Khan-Nachkommen zu stellen und damit das „östliche Entwicklungsparadigma“ anzunehmen.

Weder Sajin Bulat noch Nachkommen vom Hordenfürsten Godunow hatten allerdings keine Zukunft. Es fing die polnische Invasion an, die neue Zaren für Moskauer Land mitbrachte. Die Herrschaft vom Falschen Dmitri und dem polnischen Titularzar Wladislaw IV. Wasa war flüchtig, aber sehr symbolisch.

Die russische Zeit der Wirren sollte man vor diesem Hintergrund nicht als eine dynastische Krise, sondern vielmehr als eine Zivilisationskrise betrachten: Russland spaltete sich von Asien ab und begann in Richtung Europa zu driften.

Also bewegte sich Russland vier Jahrhunderte lang in Richtung Osten, dann vier Jahrhunderte lang in Richtung Westen. In keiner der beiden Richtungen klappte es wirklich, Fuß zu fassen. Die beiden Wege haben wir bereits hinter uns.

Jetzt ist die Ideologie des dritten Weges auf der Tagesordnung: die Ideologie des dritten Zivilisationstyps, der dritten Welt, des dritten Roms... Aber trotzdem sind wir kaum eine dritte Zivilisation. Eher sind wir eine doppelte und zwiespältige Zivilisation, die sowohl den Osten, als auch den Westen gleichzeitig beinhaltet, und deswegen weder europäisch, noch asiatisch bleibt.
Unsere kulturelle und geopolitische Zugehörigkeit ähnelt sich der wandernden Identität eines Menschen, der in einer gemischten Ehe geboren wurde. Er hat überall Verwandte, aber nirgendwo die Nächsten. Er ist ein Freund unter den Feinden und ein Feind unter den Freunden. Er versteht alle, wird aber von keinem verstanden. Halbblut, Mischling, ein Seltsamer. Russland ist ein west-östliches Halbblutland.

Zweiköpfige Staatlichkeit, hybride Mentalität, transkontinentales Territorium, bipolare Geschichte. Deswegen ist Russland charismatisch, talentiert, schön und einsam, wie jeder andere Halbblüter auch.

Alexander III. behauptete (oder auch nicht), dass Russland nur zwei Verbündete habe: seine Armee und seine Flotte. Wie auch immer kann man diese Phrase als die beste Metapher für die geopolitische Einsamkeit Russlands betrachten. Man soll sie längst als unser Schicksal akzeptieren. Die Liste der Verbündeten kann man natürlich beliebig erweitern: Arbeiter und Lehrer, Öl und Gas, kreative und patriotische Mitbürger, General Frost und Erzengel Michael... Der Sinn bleibt aber unverändert: wir selbst sind unsere eigenen Verbündeten.

Wie wird unsere zukünftige Einsamkeit aussehen? Als Einspänner weit abseits der großen Welt? Oder als einsam glückliche Spitzenreiter? Als eine sich losgelöste Alpha-Nation, für die weitere Nationen den Weg frei machen müssen? Das hängt nur von uns ab. Einsamkeit ist nicht gleich Absonderung. Eine grenzenlose Offenheit ist ebenfalls unmöglich. Beides wäre nur die Wiederholung alter Fehler. Die Zukunft hat aber ihre eigenen Fehler, sie braucht keine weiteren aus der Vergangenheit.

Zweifelsohne wird Russland auch weiter Handel betrieben, Investitionen anlocken, Wissen austauschen, Kriege führen (auch ein Kommunikationsmittel!), an Allianzen teilnehmen, konkurrieren und zusammenarbeiten, aber auch Angst, Hass, Neugier, Sympathie und Begeisterung auslösen. Nun aber ohne falsche Ziele und ohne Selbstablehnung. Es wird schwierig, und wir werden uns oft ärgern, wieso unser Weg „durch das Raue zu den Sternen“ nur aus dem Rauen besteht.
Es wird interessant.

Und Sterne erreichen wir auch.


Einsamkeit eines Halbblüters Rating: 4.5 Diposkan Oleh: Admin

1 Kommentar:

  1. Herr Surkow war mir bisher nicht bekannt.
    Seine Beschreibung Rußlands finde ich ein bißchen melancholisch, aber sonderbarerweise in vielem mit meiner eigenen laienhaften Außenansicht übereinstimmend, denn auch ich halte Rußland wie schon Fernand Braudel für eine eigene Weltregion.

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