18 Dezember 2025

Die Unmöglichkeit der Warnung

Unmöglichkeit der Warnung
Stellen wir uns vor, wir hätten die Möglichkeit, uns in das Russland vor dem Oktoberumsturz des Jahres 1917 zu versetzen – ausgestattet mit dem Wissen um all das, was sich im kommenden Jahrzehnt ereignen wird. 

Lenin im plombierten Wagen, der Kaiser im Ring der Verschwörer, Kerenski an der Spitze der Provisorischen Regierung... Alles ist uns bekannt: der Zusammenbruch der Front, der Schuss der Aurora, die Auflösung der Konstituierenden Versammlung, der Rote Terror, der Bürgerkrieg... Und so weiter. Alles – restlos alles – liegt offen vor uns. Wie Kassandra könnten wir mit vollkommener Genauigkeit vorhersagen, was für uns bereits geschehen ist, damals jedoch erst bevorstand.

Doch die Frage erhebt sich: Wohin sollten wir mit unseren Warnungen laufen? Mit wem sprechen? Wen überzeugen?

Zum Kaiser gelangen wir nicht. Sollen wir zur Staatsduma gehen? Dort würde man uns auslachen. Mit der Führung der russischen Armee reden? Auch zu ihr ist kein leichter Zugang – und auch dort würde man uns auslachen. Zu den Industriellen gehen? Zu den Arbeitern? Uns an die Kirchenhierarchie wenden? Überall würde man uns gewiss mit einem schiefen Lächeln anhören und keinerlei Konsequenzen ziehen. Denn der allgemeine Traum vom schnellen Glück und vom notwendigen, radikalen Umsturz der bestehenden Ordnung hatte sich in alle festgesetzt. In alle – auf verschiedene Weise und mit unterschiedlichen Argumenten - aber in alle. Die glasigen Augen der Zuhörer würden uns bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs treiben.

So entsteht das Gefühl einer fatalen Unausweichlichkeit: Der Gang der Geschichte ist offenkundig, doch niemandem ist es möglich, ihn zu erklären; es bleibt nur, ihrem Verlauf und ihrem schrecklichen Werden zuzusehen. Kassandra glaubte niemand – und dennoch erfüllte sich alles, was sie sagte. Jeremia weinte über den Steinen des entehrten Jerusalem, vor dessen Untergang er so lange und so vergeblich ganz Israel gewarnt hatte. Und Lot sprach zu seinen angehenden Eidamen, dass Sodom vernichtet werde, „aber es war ihnen lächerlich“. (Gen 19,14).

So ergeht es auch heute: Die offenkundigen Zeichen kommender Not, alles im Evangelium Christi Vorausgesagte, gelten vielen als „lächerlich“. Die Welt hat sich ans Scherzen gewöhnt, und jeder muss scherzen. Jedes Thema (zumindest vor dem Krieg) war nur ein Anlass für eine humoristische Skizze. Man kann das rollende Donnern der kommenden Stürme hören, man kann in den leichtsinnigen Bürgern die künftigen Opfer unvermeidlicher Erschütterungen erahnen. Das ist ein persönliches Kreuz, und höchstwahrscheinlich wird diese bittere Vorahnung vor dem dummen Gelächter der anderen bei dem Rufer bleiben – als nutzlose Prophezeiung und schwere Erkenntnis.

Deshalb riefen jene, die alles im Voraus wussten – Heilige, Märtyrer und Bekenner – einzig zu vernünftiger Geduld und zum Standhalten im Glauben auf. Sie sprachen vom zerbrochenen Schiff, weshalb man sich nun auf Planken und Wrackteilen retten müsse. Sie sagten, die Nacht werde lang und mondlos sein, doch am Ende werde dennoch die Wahrheit Gottes und der Sieg Christi erstrahlen. Man müsse geduldig ausharren. Menschliche Hände können den Einsturz des einst prächtigen Gebäudes nicht aufhalten.

Mit solchem Wissen zu leben war beinahe unerträglich. Aber sie lebten. Und wir – könnten wir uns für eine Weile dorthin versetzen, in die Zeit vor all den Wahnsinnstaten des 20. Jahrhunderts – würden erkennen, dass unser Wissen niemanden retten würde. Man müsste den Mut aufbringen, zu schweigen und sich darauf vorzubereiten, über den Trümmern der geliebten Stadt zu weinen.

Nach dem Essay des russischen orthodoxen Priesters Andrej Tkatschew

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